Damals in der DDR

Feature-Serie in zehn Teilen
H.d.Lehrer

Die Geschichte des ersten und einzigen Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden in zehn Kapiteln. Zu Wort kommen Menschen, die in der DDR lebten, die in Bergwerken und auf Leuchttürmen gearbeitet haben, die als Architekten oder Wissenschaftler tätig waren oder die als Jugendliche noch FDJ-Lieder schmetterten als der Piratensender ihrer Klassenkameraden schon die Nachbarschaft mit Beatmusik versorgte.

Eine Serie aus Interviews der mit dem Grimme-Preis ausgezeichneten TV-Produktion „Damals in der DDR“ und Aufnahmen aus dem Deutschen Rundfunkarchiv in Potsdam.

Folge 1: Der große Traum

„Man hat gefühlt, dass überall eine solche Art Aufbruchsstimmung herrscht, die sich nach der Orientierung richtete, eine andere Welt muss möglich sein, als die, die wir hinter uns gelassen haben.“, erinnert sich Irene Geismeier an den euphorischen Sommer von 1952. Im August ist die Schülerin zum Festival der Jugend nach Berlin gereist. Die Tage in der zerstörten Großstadt erlebt die 16-jährige als eine Art Love Parade mit politischen Losungen. Frieden und Freiheit stehen im Mittelpunkt, nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus und die Befreiung vom Kapitalismus sind die zentralen Forderungen.

Detlef Gosselck will Lehrer werden. In den 50er Jahren studiert er am Institut für Lehrerbildung. Mit einer Agitprop-Gruppe zieht er über Land, um in den Dörfern für den LPG-Beitritt zu werben. Als er erlebt, wie mit Bauern umgesprungen wird, die sich dem Genossenschaftsbeitritt widersetzen, kommen ihm Zweifel an der Partei, die behauptet, immer im Recht zu sein.

Die frühen Jahre der DDR, das ist die Zeit der hochfahrenden Träume, der ersten Täuschungen und Selbsttäuschungen. Nur solange sie an die Parolen der Partei glauben, können sich die Besiegten des Krieges als Sieger der Geschichte fühlen.

Folge 2: Auf der Straße der Zukunft

Während vom Aufbau des neuen Staates gesprochen, die Landwirtschaft mit einer Bodenreform umgekrempelt und vom Sozialismus geträumt wird, werden alle wichtigen Industrieanlagen demontiert und als Reparationsleistung in die Sowjetunion gebracht. Bodenreform und Landenteignung, die Entindustrialisierung, der rigide Umgang mit dem bürgerlichen Mittelstand, mit Sozialdemokraten, Kirchenmitgliedern und jedem, bei dem eine oppositionelle Haltung auch nur vermutet wird, lässt den Flüchtlingsstrom in den Westen nicht abreißen. Die DDR droht auszubluten, materiell und personell.

Doch noch gibt man sich nicht geschlagen. In der Wismut wird „Friedenserz“, sprich Uran für die Atombombe der UdSSR gefördert, im benachbarten Kohleabbau rackert der Bergmann Adolf Hennecke von Rekord zu Rekord und bei Fürstenwalde wird ein riesiges Stahlwerk aus der Erde gestampft, das der Stadt gleich seinen Namen aufdrückt – Stalinstadt. Der erste Fünf Jahres Plan, die Arbeitsorganisation nach sowjetischem Vorbild, Normen, Brigaden, Aktivisten und Helden der Arbeit sollen den Staat auf der Straße der Zukunft ein gutes Stück voranbringen. Dann stirbt Stalin, die DDR erlebt den 17. Juni 1953 und die heroische Zukunft sieht nicht mehr ganz so strahlend aus.

Folge 3: Die Zukunft leuchtet

Die DDR ist ein moderner Staat. Nicht nur der Widerspruch von Kapital und Arbeit ist überwunden, nein, auch die Errungenschaften von Wissenschaft und Technik künden von der Überlegenheit des Systems. Das ist auch die Aufgabe von Städtebau und Architektur. Repräsentative Staatsbauten und eine Stadtplanung, die mit allen Traditionen des wilhelminischen Berlins bricht, sind oberstes Ziel beim Aufbau der neuen Hauptstadt. Roland Korn ist 31 als er den Auftrag bekommt, das Staatsratsgebäude zu planen. 1957 schießt die UdSSR den ersten Sputnik ins All und 1962 folgt Juri Gagarin, der aus dem Weltraum mit Staatschef Nikita Chruschtschow spricht. Zu dieser Zeit bereitet sich Dieter Oertel auf sein Studium in Leningrad vor. Später wird er in leitender Funktion das Interkosmos-Geschäft betreuen. Die UdSSR fliegt in den Weltraum und die DDR fliegt mit. BRD-DDR? Der Kampf der Systeme ist noch nicht entschieden. DDR-Comics wie die Digedags beschreiben außerirdische Welten als sozialistische Idealgesellschaften. Alles scheint möglich. Es gibt keine Grenzen sondern nur die Gewissheit – es geht voran.

Folge 4: Mauerbrecher

Der Flüchtlingsstrom von Ost nach West reißt nicht ab. 100.000, 200.000, 300.000 Jahr für Jahr werden es mehr. Die Gründe sind immer gleich. Es geht um fehlende Perspektiven. Akademiker, Facharbeiter, Bauern – das Bürgertum flieht, weil es für sich im „real existierenden Sozialismus“ keine Zukunft sieht. Doch viele Verlassen ihre Heimat nur widerwillig. „Das Herz blieb hier“, sagt Hildegard Kruse heute. In den 50er Jahren folgte sie ihrem Mann in den Westen, überredete ihn, in den Osten zurückzukehren, floh 1961 ein zweites Mal mit ihm in den Westen, hielt es schon bald nicht mehr aus und kehrte 1964 in die DDR zurück. Dort ging es Wolfgang Engels nicht anders. Der gebürtige Düsseldorfer zog mit seiner Mutter, einer Kommunistin, in den 50er Jahren in die DDR. Sie arbeitete in Dresden bei der Stasi, während ihr Sohn in der DDR nicht heimisch wurde. Seine Flucht gehörte zu den spektakulärsten aller Fluchtversuche. Mit dem Panzerwagen durchbrach er 1963 die Mauer, deren Planung Ulbricht bis zuletzt geleugnet hatte. Der „antiimperialistische Schutzwall“ der Propaganda wurde zur Grundvoraussetzung für die Existenz der DDR. Die Mauer sicherte den Feldversuch „Arbeiter- und Bauernstaat“. Als sie fiel, war die neue Gesellschaft, die in ihrem Schutz entstehen sollte, nur noch eine Parole aus besseren Tagen.

Folge 5: Kleine Fluchten

Nach dem Mauerbau machte sich das Politbüro über die jungen Leute und ihre Gewohnheiten Gedanken. Der radikale Bruch mit dem Westen hatte keineswegs zur erhofften Rückbesinnung auf die proletarischen Wurzeln geführt. Das fröhliche Singen von revolutionärem Liedgut, das bei Parteiveranstaltungen und Kundgebungen das Herz der älteren Kader gewärmt hatte, ließ sich nicht in den Alltag hinüberretten. Die Jugend hörte eine Musik, die von den Alten nicht mehr verstanden wurde. Ulbrichts „mit der Monotonie des Yeah, Yeah, Yeah, und wie das alles heißt, sollte man Schluss machen“ befolgte sein Adlatus Honecker aufs Wort. „Unsere DDR ist ein sauberer Staat“ gab der ehemalige Jugendsekretär 1965 zu Protokoll und wer jetzt noch Beatmusik hörte und zu lange Haare hatte galt fortan als asoziales Element. Grund genug für Karl-Heinz Krause und seine Freunde mit einem Piratensender zumindest den eigenen Stadtteil mit guter Musik zu versorgen. Wenig später brachen in der Tschechoslowakei die Tage des Prager Frühlings an und die Losung vom „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ begeisterte die Menschen in Ost und West.

Folge 6: Luxus für Alle

In den 70er Jahren versprach die neue DDR-Führung unter Erich Honecker die Erhöhung des Lebensstandards, bescheidenen Konsum und bessere Lebensverhältnisse. AWG – Alle wohnen gleich, der Slogan der Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft, wurde in der DDR nicht als Drohung verstanden sondern als Versprechen. Spätestens bis 1990 sollte jeder DDR-Bürger in einer modernen Wohnung mit fließend Warmwasser, Zentralheizung und Fahrstuhl leben. Als Mieterin erlebte Ingrid Apolinarski die ganze Vielfalt des DDR-Wohnungsangebotes. Und die in der Raumplanung beschäftige Diplomingenieurin wusste früh von der Unausführbarkeit der gut gemeinten Pläne für den Wohnungsbau. Mit Intershop, Genex-Katalog, Exquisit- und Delikatläden sollten nicht nur die Konsumwünsche, sondern vor allem auch ausländische Devisen abgeschöpft werden. Ähnliches bezweckte die Staatsführung mit dem Plan, ein international konkurrenzfähiges Luxushotel zu bauen, das gleichermaßen für ausländische Devisentouristen als auch für einheimische Urlauber offen stehen sollte. Mit eigener Währung und eigener Versorgung wurde das Warnemünder Hotel Neptun zum Staat im Staate. Der noch immer amtierende Hoteldirektor und eine Besucherin der ersten Stunde erinnern sich an die wilden Tage im proletarischen Grand Hotel.

Folge 7: Wirtschaft nach Plan

Das Angebot an Konsumgütern gibt in den 70er Jahren ein trügerisches Bild vom Zustand der DDR-Wirtschaft. Autos, auch ein paar unerschwingliche Westmarken, Farbfernseher und das im Vergleich zu früheren Jahren abwechslungsreichere Warensortiment, verdecken notdürftig die Versorgungsengpässe, unter denen die Wirtschaft leidet. Eine Bilanzierung, die alle Industrieprodukte vom Kleiderbügel bis zum Walzstahl erfasst und eine Verwaltung im Takt der jeweiligen Fünf-Jahres-Pläne verhindern jede Flexibilität. Die Rohstoffproduzenten werden dazu verdonnert einen festgeschriebenen Anteil an Konsumgütern zu produzieren. So stellt das Petrochemische Kombinat in Schwedt mit einem Mal Kunststoffmöbel her, die dem Designer Siegfried Mehl so elegant gelingen, dass nur die dilettantische Vermarktung den kommerziellen Erfolg verhindert. Funktionierende mittelständische Privatbetriebe wie die Sonneberger Plüschtierfirma Breitung werden verstaatlicht, um sie besser der staatlichen Planung zu unterwerfen. Und über allem steht der Zwang, Devisen zu erwirtschaften. Bei der Energieversorgung setzt die DDR deshalb ganz auf die heimische Braunkohle. 1979 lässt ein Wetterumschwung die DDR nicht nur im Schnee versinken, er lässt auch die gesamte Energieversorgung des Landes zusammenbrechen, bis Dieter Baumann im Otto-Katalog die richtigen Presslufthämmer für die vereiste Braunkohle gefunden hat.

Folge 8: Ihr da oben, wir da unten

„Die Partei, die Partei, die hat immer Recht“. Der Refrain von Louis Fürnbergs „Lied von der Partei“ war in den 50ern frei von jeder Ironie und sollte es bis zuletzt bleiben. „Sie hat uns alles gegeben, / Sonne und Wind, und sie geizte nie, / und wo sie war, war das Leben“. Ohne die Partei oder stellvertretend den Parteisekretär, den es in jedem größeren Betrieb und in jeder Verwaltungsebene gab, ging nichts im Arbeiter- und Bauernstaat. Am 1. Mai, den Gewerkschaftssekretäre wie Udo Gebhardt organisierten, hatten die Bürger Gelegenheit, der Partei für ihre Fürsorge und Klugheit zu danken. Dabei täuschte die sorgfältig choreographierte Euphorie der Massenkundgebungen kaum noch über die immer größer werdende Entfremdung von Partei und Volk hinweg. Während die Staatsführung sich im Kampf um politische Anerkennung und dringend benötigte Milliardenkredite verstrickt, geht das Volk eigene Wege. Familie Ziethen, die 1981 einen Ausreiseantrag stellt, erlebt den entfesselten, von allen Verbindungen zum gesellschaftlichen Alltag befreiten Staat genauso, wie der Handwerkermeister Gerald Wahrlich, der ab 1985 in Eigenregie eine leer stehende Ruine wieder aufbauen will. Ihr da oben, wir da unten – die Zeit der Verständigung ist vorbei.

Folge 9: Wir sind das Volk

Sommer 1989. Die Urlaubszeit treibt die Zahl der illegalen Ausreisen über die Grenzen der Tschechoslowakei und Ungarn in ungeahnte Höhe. Die Wirtschaft ist am Ende. Der DDR droht die Zahlungsunfähigkeit und das Volk will nicht mehr. Das wie immer gefälschte Wahlergebnis der Volkskammerwahlen bringt das Fass zum überlaufen. Während das Politbüro sich auf die Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR-Gründung freut, sehen sich Stasi und Volkspolizei einem für unmöglich gehaltenen Widerstand gegenüber. Alle Polizeikräfte werden eingesetzt, darunter auch Polizeischüler wie Karl-Heinz Reiche. Das ‚S’ auf den Uniformen weisen Reiche und seine Kollegen als Polizeischüler aus, die Demonstranten halten die Uniformierten für eine Spezialeinheit. Mahnwachen, bürgerlicher Ungehorsam, zum Teil gewalttätige Demonstrationen – für die Partei läuft die Situation aus dem Ruder. Die Parteisekretäre sind ratlos. Die bei den Demonstrationen eingesetzten Polizisten hilflos und die Stasi-Agenten ohne einen klaren Befehl von oben. Das Spiel ist aus und Erich Honecker feiert im Palast der Republik ein letztes Mal den Jahrestag der Staatsgründung.

Folge 10: Was zusammengehört

Der Eine versprach „blühende Landschaften“ der Andere behauptete „was zusammengehört, wächst zusammen“ – die Wendezeit ist die Zeit der großen Worte. Und es ist eine Goldgräberepoche mit aller Euphorie und aller Enttäuschung, die dazu gehört. Für Viele geht es mit neuem Geld zu neuen Ufern. Die Zuversicht ist da, die Zukunft wird wunderbar. Wer noch kein Auto hatte, kauft sich jetzt eins aus dem Westen und manche ziehen gleich ganz rüber. Wie die Mutter von Andreas Ihlenburg, die ihrem Sohn ihr Erspartes zurücklässt, womit der sich ein Sehnsuchtswunsch erfüllen: „Opel Senator A, 2, 8 i, Einspritzer, Wow!“. Auch wenn der Motor nach sieben Tagen verraucht und der Verkäufer jegliche Garantie ablehnt, leuchtet der Westen verführerischer denn je. Ob Jeans, Zigarette, Bier, Waschmittel oder Wurst, egal ob Ware für den täglichen Bedarf, oder gehobene Konsumgüter wie Fotoapparate oder Kühlschränke – es muss aus dem Westen kommen, um gekauft zu werden. Mit kleinen und größeren Tricks versuchen Kombinate wie die brandenburgische Hühnermast, in der Frau Stirkor arbeitet, ihre Produkte auf „west“ zu trimmen. Das geht nicht lange gut. Die Großbetriebe der DDR kapitulieren schneller als erwartet. Der große Ausverkauf hat längst begonnen. Am Ende fragen sich Viele: Wächst wirklich zusammen, was einmal zusammengehörte oder gilt erst ein- dann abgewickelt? Was ist aus den Träumen der ersten Monate geworden?

mit Interviews aus der gleichnamigen TV-Produktion von LOOKS Film & TV

Autor: Nicolaus Schröder; Mitarbeit: Christine Sievers

Redaktion: Ulrich Horstmann, WDR 2005