Bericht aus dem ZK

Die Neuauflage von „Herbst’89“, dem Tagebuch von Egon Krenz

Das Foto auf dem Cover ist ein echter Hingucker. Grauer Anzug, silbriges Haar, der Blick konzentriert, wenn auch zur Seite am Betrachter vorbei. Das erinnert an offizielle Politbürobilder, solche die in der DDR in Behörden, Schulen und Krankenhausfluren herumhingen. Doch der Blick fixiert sein Gegenüber nicht und das Staatstragende dieser retuschierten Anzugträger fehlt diesmal. Der Eindruck, den der Porträtierte stattdessen vermittelt, ist eher mucksch: „Auf mich hört ja wieder keiner!“

Auf Egon Krenz ist lange gehört worden. Als Langzeit-FDJ-Vorsitzender und Kurzzeit-Staatsratsvorsitzender gehörte er seit 1961 zur Nomenklatura der DDR. 1997 wurde er wegen seiner Mitverantwortung für den Schießbefehl an der DDR-Grenze zu sechseinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, von denen er knapp vier Jahre verbüßte. 1999 veröffentlichte er „Herbst’ 89“. Seine Erinnerung an die friedliche Revolution von 1989 ist in diesen Wochen wieder veröffentlicht worden.

Warum dieses Buch und warum dieses Buch heute? Vor zehn Jahren gehörte „Herbst’ 89“ zum medialen Begleitfeuerwerk, mit dem Egon Krenz gegen seine Verurteilung protestierte. Mit Haftbeschwerde, Revision, Verfassungsbeschwerde und einer  Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hatte er damals das juristisch Mögliche versucht, ohne jedoch Erfolg zu haben. In seiner Tagebuchbearbeitung „Herbst ’89“ schildert Krenz den Gang der Dinge, wie er sich ihm als Politbüromitglied zwischen Aktenlektüre und der eskortierten Fahrt ins Wandlitzer Walddomizil bot. Fugendicht abgekapselt muss dieses Leben gewesen sein – das ist wenigstens der Eindruck, den die Krenz-Erinnerungen heute vermitteln. Da muss im Juni 1989 der ehemalige Geheimdienstchef Mischa Wolf gefragt werden, wie er „die gegenwärtige Situation der DDR sieht“, weil Wolf als Memoiren und Kochbücher schreibender Pensionär offenbar immer noch besser über die „Menschen auf der Straße“ Bescheid weiß, als der angehende Staatsratsvorsitzende es je vermocht hätte. Krenz beschreibt das kleinliche Hickhack der Apparatschiks, die Unfähigkeit von Politbüro und ZK das große Ganze zu verstehen, um sich selbst immer auch als die bedächtig mahnende und kritisch nachhakende Stimme darzustellen. Krenz also ist die verkannte Größe der friedlichen Revolution, die graue Eminenz, die bei Gorbatschow schon die Konditionen einer möglichen Wiedervereinigung erfragte, bevor andere an die deutsche Einheit überhaupt zu denken wagten. So ist „Herbst’89“ eine einzige Selbstrechtfertigung, deren Mangel an Selbstkritik allein durch das Übermaß an unfreiwilliger Komik wettgemacht wird.

„Ich frage Mielke: »Was schlägst du vor?« Er antwortet: »Generalsekretär bist du.« Ich verstehe. Das Ministerium für Staatsicherheit wird sich den politischen Entscheidungen fügen. »…Also, hoch mit den Schlagbäumen!«“

Das  historische Verdienst von Egon Krenz mag tatsächlich darin bestehen, mit beigetragen zu haben, dass Stasi und Armee nicht die Nerven verloren und eine Katastrophe, wie das von Krenz im Juni 1989 noch gut geheißene Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking, verhindert wurde. Was ihn tatsächlich zu seiner viel zu späten Einsicht bewegte und ob er so etwas wie Scham verspürte angesichts der eigenen jahrzehntelangen Feigheit, geht aus seinen Erinnerungen nicht hervor. Dafür dokumentiert „Herbst’89“ eindrucksvoll die Binnenperspektive eines politischen Systems im Moment seines Zusammenbruchs.

© Nicolaus Schröder 2009, friedlicherevolution.de